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Begegnung im Quartier – paul@soli3006

Sozial, solidarisch, kollektiv: Soli3006

Helfen, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten. Vernetzen und beleben, damit die Menschen, die physisch nahe beieinander leben, sich auch persönlich näherkommen. Ein Projekt für alle, das offen ist und gleichzeitig kritisch hinterfragt. Das ist Soli3006, dessen Vertreter*innen Nora und Stephan wir zum Gespräch getroffen haben.

Anders als die meisten anderen Besuche findet dieses Treffen nicht an einem bestimmten Ort statt, sondern wir spazieren vom Zentrum Paul Klee durchs Quartier zum Egelsee. Diese Ortsunabhängigkeit steht, wie wir im Laufe des Austauschs merken, auch irgendwie sinnbildlich für das Projekt: Soli3006 ist eine Gruppe von jungen Menschen aus dem ganzen Gebiet 3006. Am Anfang stand der Wunsch, hilfsbedürftige Menschen im Lockdown zu unterstützen. Dafür haben die Mitglieder von Soli3006 das ganze Quartier «gezettelt» und ihre persönlichen Telefonnummern hinterlassen. Ganz unkompliziert konnten sich hilfsbedürftige Menschen telefonisch melden, und jemand brachte ihnen Einkäufe vorbei. Die Gruppe selbst organisiert sich via Whatsapp-Chat und umfasst rund 30-40 aktive Unterstützer*innen. Nora und Stephan mussten dabei rasch eine Koordinations- und Vermittlungsrolle übernehmen und haben noch lange nicht alle Beteiligten persönlich getroffen. Trotzdem ist durch ihre Koordination und die persönlichen Telefonnummern die Rückverfolgbarkeit von Aufträgen garantiert, sollte es einen Zwischenfall geben. Spesen verlangen sie keine, es war von Anfang an klar, dass das Projekt nicht profitorientiert ist, sondern aus purer Solidarität passieren soll. Trinkgeld können die jeweiligen Unterstützer*innen behalten. Da Soli3006 als Verein organisiert ist, besteht auch die Möglichkeit, es in die Vereinskasse zu spenden, aus der unter anderem Menschen auf der Flucht unterstützt werden. Etliche der Mitglieder haben diese Möglichkeit wahrgenommen.

Interessante Begegnungen gab es einige: Nora erzählt, dass sie durch das Projekt zum ersten Mal mit ihrer Nachbarin in Kontakt kam. Sie erhielt einen Anruf und eine Frau fragte, woher sie denn wissen könne, dass die Menschen hinter Soli3006 tatsächlich existierten. Nachdem Nora ihre Adresse genannt hatte, stellten sie fest, dass sie sich von ihren Balkonen aus zuwinken können. Um zusätzliche Schwellen und Ängste abzubauen, hat Soli3006 auch mit Pro Senectute und den Sozialdiakon*innen der lokalen Kirchen zusammengearbeitet. Sie haben Menschen, welche Hilfe benötigten, an Soli3006 weitergeleitet. So entstand ein Sozialraum, in dem viele verschiedene Player zusammenspielen. Es hat sich zudem oft gezeigt, dass insbesondere Risikogruppen-Menschen ein grosses Bedürfnis nach Austausch hatten und es genossen, am Telefon einfach mit jemandem sprechen zu können. Das erstaune sie nicht, meinen Nora und Stephan, denn durch Corona sei offensichtlich geworden, dass man im Stadtteil IV nicht wirklich viel miteinander zu tun habe. Es finde keine Vernetzung statt, was zu Vereinsamung führe. Das wollen sie jetzt ändern, und zwar, indem das Projekt sich nun auch für eine stärkere Vernetzung und Stadtteilbelebung einsetzt. Beispielsweise durch die gemeinschaftliche Organisation von Feierabendtreffs mit dem Verein am See.

«Wir wollen ein Gefäss schaffen, in dem die verschiedensten Menschen Platz und eine Plattform finden. Eine spezifische Zielgruppe gibt es nicht – man könnte sagen, wir wollen irgendjemanden und alle.»

Nora und Stephan, Soli3006

Soli3006 ist kein konkreter physischer Treffpunkt. Es ist eine Idee, die viele kleine Treffpunkte und Vernetzung schafft. Die Koordinationsgruppe, die mittlerweile aus neun Personen besteht, trifft sich vor allem virtuell. Trotzdem sind durch das Projekt auch physische Bande entstanden: Wenn sich zum Beispiel immer dieselben Gruppen zum Flyern getroffen haben, oder durch das Projekt neue Freundschaften entstanden sind. Zudem haben sich aus Soli3006 andere Hilfsstrukturen entwickelt, zum Beispiel Gruppen in Thun und Steffisburg. Besonders schön daran sei, dass man sich miteinander austauschen könne: Wie handhabt ihr das? Welche Erfahrungen habt ihr gemacht? Dass die Koordinationsgruppe gewachsen ist, bewerten Nora und Stephan als sehr positiv. «Zu zweit hat man zwei Lösungen für ein Problem, zu neunt hat man zwanzig und viele verschiedene Erfahrungen.» Das sei dem Projekt extrem zugute gekommen: Viele der Leute, die mitmachen, seien auch sonst sozial aktiv, weshalb von Anfang an ein grosser Fundus an Wissen da gewesen sei. Allen war bewusst, dass es wichtig ist, die Aufgaben nach Kapazität und Können zu verteilen. Wer in etwas gut ist und Zeit hat, übernimmt. Gleichzeitig konnten alle voneinander lernen und sich neue Skills aneignen.

Die Koordinationsgruppe von Soli3006 an einer ihrer virtuellen Sitzungen.

Zu paul&ich haben die beiden eine klare, aber auch kritische Meinung. «Wenn ich Urban Gardening höre, bin ich sehr sehr sehr dabei», meint Stephan lachend. Es brauche aber unbedingt Strukturen, die das Projekt zu den Leuten bringen. Er wohne zum Beispiel seit fast sieben Jahren praktisch neben dem Zentrum Paul Klee, sei aber noch nie drin gewesen. Und auch die Initiative dazu, wie man den Raum fülle, müsse von unten kommen. Nur so könne ein solches partizipatives Projekt nachhaltig sein. Wir stellen unschwer fest, dass die beiden viel Erfahrung mit partizipativen Prozessen haben. Mit viel Interesse nehmen wir ihre Perspektiven und Gedanken zur Demokratisierung des Zentrum Paul Klee entgegen und es entwickelt sich ein spannender Austausch über Partizipation allgemein. Nora ergänzt, sie sei immer etwas skeptisch gegenüber «organisierten Freiräumen». Es sei eine sehr schöne und sinnvolle Idee, die aber vielleicht etwas spät komme. Für viele Menschen aus dem Quartier sei das Zentrum Paul Klee als Monument, das einfach da stehe, bereits fest verankert. Zum jetzigen Zeitpunkt sei es eine enorm schwierige Aufgabe, die Menschen dazu zu bringen, teilzunehmen, und ihre Bedürfnisse zu artikulieren. «Man müsste wahrscheinlich offenlassen, was im Haus passieren kann, damit man den vielseitigen Bedürfnissen gerecht wird.» Zudem seien sich die Menschen in der Schweiz Partizipation nicht wirklich gewohnt, und sie brauche für den Einzelnen viel Überwindung. Wenn sich dann zeige, dass eine Sache versande, führe das schnell zu Frustration.

Erschwerend komme wohl auch die Heterogenität des Stadtteils hinzu. Das zeige sich bereits in der unmittelbaren Nachbarschaft des Zentrum Paul Klee: Auf der einen Seite die Giacomettistrasse, auf der anderen das neue Quartier Schönberg Ost. Das seien Welten von unterschiedlichen Bedürfnissen, die aufeinandertreffen, und Meinungen, die teils unterschiedlich gewichtet werden. «Der Stadtteil IV ist sehr heterogen, aber nicht durchmischt, das ist bezeichnend. Man ist nebeneinander, aber nicht miteinander. Wir sehen sehr viel Potenzial, das in Zukunft hoffentlich umgesetzt wird.» Wichtig dabei sei aber, dass alle Menschen miteinbezogen würden, egal, wer sie sind oder wie sie sich ausdrücken. Ein solches inklusives, demokratisches und kollektives Projekt soll auch Soli3006 werden. Eine genaue Definition sei noch in Arbeit, klar sei aber, dass die Gruppe ein Gefäss schaffen, in dem die verschiedensten Menschen Platz und eine Plattform finden, und sozialpolitisch aktiv sein will. Eine klare Zielgruppe haben sie bewusst nicht definiert: «Man könnte sagen, wir wollen irgendjemanden und alle.»


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