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Gewöhnlich entlässt ein Museum seine Gegenstände ohne öffentliche Aufmerksamkeit. Wir machen den Prozess der Entsammlung jedoch transparent und ermöglichen so den Einwohner:innen und Heimatberechtigten des Emmentals ein Mitspracherecht.
“Damit sind wir aber auch noch Ski gefahren!” bemerkte ein Besucher erfreut, als er die technische Beschriftung “Fassdauben” zu einem unserer ausgestellten Objekte las. Diese Aussage war für mich, Carmen Simon, Leiterin des Regionalmuseums Chüechlihus, mehr als eine interessante Bemerkung, denn sie bringt einen der Kernpunkte unseres Partizipationsprojekts auf den Punkt: ein Museum ist niemals allwissend.
Unser Besucher war ehemaliger Skilehrer in der Region und bewog uns alle mit seinem Knowhow nicht nur dazu, das Objekt umzubenennen, sondern es auch weiterhin in unserer Sammlung zu behalten. Die beiden Holzbretter standen nämlich als Vorschlag für die Entlassung aus unserer Sammlung zur Auswahl, weil sie als Teile eines Fasses – so genannte Fassdauben – galten und gekennzeichnet waren. Als Einzelteile eines Fasses und damit unvollständiges Fass hätten sie unserer Sammlung kaum einen Mehrwert gebracht. Der Experte erkannte jedoch, dass es sich bei diesen Fassdauben um Bretter handelte, die früher als Behelfsskier umfunktioniert wurden. Sie kamen an so genannten Fassdaubenrennen in der Region und an vielen anderen Orten zum Einsatz. Eine kulturhistorisch spannende Angelegenheit.
Es sind exakt solche Begegnungen, die voller Überraschungen stecken und zeigen, dass es aus unterschiedlichen Gründen wichtig ist, die Bevölkerung in unsere Museumsarbeit miteinzubeziehen – denn jede:r kann Expert:in sein.
Kulturgut aus der Sammlung entlassen
Seit 2021 bin ich als Museumsleiterin im Regionalmuseum Chüechlihus tätig. Hier in Langnau i.E., dem Handels-, Gewerbe- und Dienstleistungszentrum des oberen Emmentals mit knapp 10’000 Einwohner:innen, bewahren, präsentieren, vermitteln und diskutieren wir das Kulturerbe der Region. Das Regionalmuseum gilt als eines der grössten und vielfältigsten Regionalmuseen mit kulturhistorischer Sammlung in der Schweiz. Unsere Sammlung umfasst ungefähr 25’000 Objekte. Ein kleiner Teil unserer Objekte ist im Museum ausgestellt. Der Grossteil der Objekte – unseren Gedächtnisspeicher – haben wir bis anhin in unterschiedlichen Museumsdepots im Dorf aufbewahrt. Nun werden die Depots zusammengeführt und die Objekte in ein neues, den heutigen Museumsstandards entsprechenden, Depot gezügelt.
Dabei findet auch eine Aufarbeitung der Museumssammlung statt, wobei sich herausgestellt hat, dass einige Kulturgüter in unseren Depots mehrfach vorhanden oder unvollständig sind. Die Geschichte von gewissen Objekten ist nicht dokumentiert. Solche Gegenstände bringen dem Museum keinen Mehrwert. Deshalb haben wir im Regionalmuseum Chüechlihus entschieden, diese Objekte aus der Museumssammlung zu entlassen.
Tabuthema wird öffentlich
Gemeinsam mit den Emmentaler:innen und dem eigens für das Projekt gegründeten Objektrat #AltSuchtNeu – bestehend aus Fachpersonen aus dem Museum, Kulturschaffenden, lokalen Politikern und zufällig ausgelosten Personen aus der Bevölkerung – entschieden wir deshalb im Frühling 2022, welche Kulturgüter aus unserer Sammlung weggegeben werden.
Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass es den Grundaufgaben eines Museums widerspricht, Objekte wegzugeben. Sind Museen doch dazu da, Kulturgut zu sammeln. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass das Aussondern von Gegenständen unter den richtigen Voraussetzungen und im Rahmen gesetzlicher und ethischer Vorgaben nicht nur vertretbar, sondern für eine verantwortungsvolle Sammlungspflege auch notwendig ist.
Auf entsammeln.ch können sich bis zum 26. Juni 2022 alle (Privatpersonen, Läden oder andere Museen) auf ein Wunschobjekt bewerben und sind herzlichst eingeladen, die Chance zu nutzen, stolze:r Besitzer:in unseres Emmentaler Kulturerbes zu werden.
Bevölkerung erhält Kulturgut zurück
Die Emmentaler Bevölkerung konnte bei einer grossangelegten Kampagne auf der Plattform entsammeln.ch mit Begründung abstimmen, welche Objekte das Regionalmuseum Chüechlihus aus seiner Sammlung abgeben soll. Die Vorschläge für die zu entsammelnden Gegenstände kamen von uns als Museum. Bei insgesamt 116 Zeitzeugen aus der Vergangenheit wurde entschieden, dass es nicht sinnvoll ist, sie länger in einem Depot in Langnau aufzubewahren. Es gab aber auch Gegenstände, bei denen gemeinsam bestimmt wurde, dass sie Teil der Museumssammlung bleiben – wie eben die oben erwähnten – nun Skier. Für die anderen 116 Objekte suchen wir jetzt neue Besitzer:innen, damit dieses Kulturgut aus dem Oberemmental, an einem neuen Ort, die Chance auf ein neues Leben erhält. Auf entsammeln.ch können sich bis zum 26. Juni 2022 alle (Privatpersonen, Läden oder andere Museen) auf ein Wunschobjekt bewerben und sind herzlichst eingeladen, die Chance zu nutzen, stolze:r Besitzer:in unseres Emmentaler Kulturerbes zu werden. Zur Auswahl stehen zum Beispiel ein Schulpult, Koffer, Körbe, Bretzeleisen oder ein grosser Schlitten.
Die breite Kommunikation und Offenheit führt dazu, dass mich auch ich immer wieder Nachrichten aus der Bevölkerung erreichen – auch besorgte Stimmen: Veräussert das Museum meine Schenkung? Gibt es Leihgaben, die weggegeben werden? Baut das Regionalmuseum Chüechlihus seine Sammlung ab? Selbstverständlich beantwortete ich alle Fragen gerne ausführlich – weder Leihgaben werden entsammelt, noch Objekte verkauft und auch die Sammlung nicht einfach abgebaut – und erläuterte das Projekt. Auch solche kritischen Rückmeldungen erfreuen mich, denn sie widerspiegeln die Brisanz des Themas: Das Kulturerbe bewegt die Menschen und es ist wichtig, gemeinsam über deren Wert zu sprechen.
Regionales Kulturerbe lebt weiter
Gewöhnlich entlässt ein Museum seine Gegenstände ohne öffentliche Aufmerksamkeit. Wir machen den Prozess der Entsammlung jedoch transparent und ermöglichen so den Einwohner:innen und Heimatberechtigten des Emmentals ein Mitspracherecht. Das finde ich essenziell, da das Kulturgut unseres Museums von hier kommt und die Geschichte der Region widerspiegelt.
Dieser partizipative Ansatz schafft Raum zur Diskussion. Es ist uns wichtig, eine gemeinsame Debatte über den Wert der Objekte und deren Erhalt zu führen. Dieser Schritt nach aussen, bei der die Bevölkerung sich beteiligt, ermöglicht eine neue Form von Identifikation und Auseinandersetzung. Unser Besucher, der die Holzbretter als Skier identifizierte, erzählte uns viele spannende Informationen über das frühere Langnau. Diese mündlichen Überlieferungen werden von uns im Museum dokumentiert und tragen dazu bei, dass wir mit den Objekten, die wir bewahren, Geschichten erzählen können.
Als Leiterin einer öffentlichen Kulturinstitution will ich zu einem verantwortungsvollen Umgang mit dem regionalen Kulturerbe beitragen. In meiner täglichen Arbeit ist es mir deshalb ein Anliegen, Brücken zwischen unserer Sammlung und der Bevölkerung zu schlagen. Bei uns schreibt die Bevölkerung die Geschichte des Oberemmentals mit. Damit das passiert, versuchen wir möglichst viele Anreize zu schaffen, die zu einer aktiven Auseinandersetzung mit Geschichte und Kultur führen. Wir haben mit dem Entsammlungsprojekt neue Wege eingeschlagen – und ich freue mich ausserordentlich auf das, was noch kommt.
#ALTSUCHTNEU MIT PESCHE HEINIGER
Um viele Begegnungen zu ermöglichen und unser Projekt breit zugänglich zu machen, finden regelmässig öffentliche, kostenlose Veranstaltungen bei uns statt. Am nächsten grossen Anlass vom 9. Juni 2022 tritt der Slam Poet, Liedermacher und Kolumnist Pesche Heiniger im Jugendhaus in Langnau auf. Er liest dann, passend zum Motto #AltSuchtNeu, neue Texte, die von unserem Projekt inspiriert wurden wie auch Texte aus seinem Fundus. Dazu gibt es einen Apéro mit passenden Spezialitäten. Bei dieser Gelegenheit können 116 Objekte, die das Regionalmuseum Chüechlihus der Bevölkerung zurückgibt, besichtigt werden. Die Besucher:innen erhalten Hintergrundinformationen zum aktuellen Projekt und die Möglichkeit, sich vor Ort auf ein Objekt zu bewerben.
Vom 9. Juli bis 14. August 2022 wird im Regionalmuseum Chüechlihus nochmals abgestimmt: Die Emmentaler:innen entscheiden dann, welche Ideen umgesetzt werden und damit an wen die Objekte definitiv gehen.
paul&ich
Als Bernerin freue ich mich, dass das ZPK durch “paul & ich” den Versuch und Prozess startet, seinen Platz in einem Quartier zu finden und damit auch Teil des Quartiers und dessen Bevölkerung zu werden. Als Museumsmacherin freue ich mich, dass ein namhaftes Schweizer Museum den Mut aufbringt, neue Wege zu gehen, indem es sich vornimmt, die eigene Kulturinstitution mit der Bevölkerung zu gestalten.
Text: Carmen Simon, Leiterin Regionalmuseum Chüechlihuus, Langnau i.E.
Fotos: Andreas Reber & Markus Zahno (c) Regionalmuseum Chüechlihaus
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