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paul&kaspar – Begegnung mit unserer Kunst-Community

Den Kopf frei zu haben für neue Projekte, genügend Zeit, anstehende Aufgaben und Pendenzen gründlich und nicht immer auf dem letzten Drücker erledigen zu können, geniesse ich gerade sehr. Ich arbeite mit viel mehr Konzentration und Freude, manchmal auch an einer ganz kleinen Aufgabe, nicht selten entsteht daraus Inspiration für etwas Grösseres.

Heute Morgen habe ich die vom Regisseur vorgeschlagenen Kürzungen in Mozarts «Figaro» (Opéra de Metz, März 2021 – wird die Produktion überhaupt stattfinden?) auf ihre harmonische und musikalische Machbarkeit überprüft und bin so der Partitur ein gutes Stück nähergekommen. Daneben lerne ich für die anstehenden Aufnahmen mit meinem tschechischen Orchester ein paar Partituren von Dvořák, die ich noch nie dirigiert habe. Und immer wieder vertiefe ich mich in mein persönliches Archiv der «Murten Classics 1999-2021», dabei überwiegen schon jetzt die schönen Erinnerungen gegenüber den frustrierenden Erfahrungen rund um die Absage meiner letzten Ausgabe. Es verklärt sich vieles mit der Zeit.

“Ich habe keine Angst, sondern versuche, meine Verantwortung für die Zukunft, die eigene und diejenige meines Umfelds, zu definieren, um sie wahrzunehmen, sobald und wo immer es möglich wird.”

Die Begegnungen auf, vor, hinter und neben der Bühne fehlen mir sehr. Gewöhnlich entwickle ich im Dialog mit Künstler*innen, Philosophen, Theologen, Regisseuren, Ausstellungs-Kuratorinnen, Programm-Dramaturgen, oder auch nur bei einem Glas Wein mit Bekannten den Hauptteil meiner kreativen Ideen, meiner Projekte, meiner Pläne. Da bin ich im Moment sehr auf meine Bibliothek, auf meine Plattensammlung und auf mein nächstes persönliches Umfeld reduziert. Das intakte Familienleben macht mich zwar glücklich, aber normalerweise ernährt es sich und ist geprägt vom Wechselspiel zwischen Abwesenheit und wiedergefundener Nähe und vom permanenten Interesse am individuellen Erleben des oder der andern.

Corona hat nicht nur mein Arbeitsfeld, sondern meine Arbeit an sich grundlegend verändert. Ich darf seit einem Jahr keine «normalen» Konzerte mehr geben, seit vier Monaten überhaupt keine mehr. Dort, wo ich berufen bin, darf ich meiner Berufung nicht nachgehen. Ich bin auf Entzug wie ein Abhängiger, der seiner Sucht nicht frönen darf. Mein Beruf ist gerade mal wieder eine Leidenschaft, die Leiden schafft. Ich bin auch im Produktionsstau, kurz vor der Explosion: im vergangenen Jahr war ich pausenlos tätig, habe geübt, habe mein Repertoire erweitert, bin aufgetreten, wo immer ich konnte, habe Aufnahmen, verschiedene Streams gemacht, aber ohne Publikum fehlt der Künstlerischen Tätigkeit ein ganz wichtiges Element im Energie-Zyklus. Man fühlt sich wie in einem Schwimmbad ohne Wasser.

Man braucht viel frische Luft gerade – Bern ist zum Glück ein grossartiges Naherholungsgebiet, ich bin sehr viel draussen, allein, mit meiner Frau, mit meiner Familie oder mit einem Freund. Es freut mich, wenn ab und zu jemand anruft oder schreibt und nachfragt, wie’s einem geht, einen Spaziergang zum Durchatmen und für den gegenseitigem Austausch vorschlägt. Es tut gut, wenn das Zentrum Paul Klee als einer der für mich wichtigsten und liebsten Wirkungsorte der letzten Jahrzehnte den Kontakt zu Bernerinnen und Bernern sucht.

Auf die Propheten im eigenen Land hört man vielleicht im Moment mehr als auch schon, das ist schon mal sehr positiv. Es ist im Übrigen nicht der einzige positive Nebeneffekt von Corona. Ich bin pragmatischer geworden. Ich bin dankbar, dass wir immer noch auf sehr hohem Niveau klagen. Ich hüte mich zu sagen, dass es nur noch besser werden kann. Meine Branche leidet, und ich mit ihr. Aber ich habe kein Selbstmitleid. Ich weiss, dass ich mit weniger Arbeit und Ertrag leben kann, dass weniger sogar mehr sein kann.

Ich mache mir Sorgen für unsere Gesellschaft und Kultur. Aber ich habe keine Angst, sondern versuche, meine Verantwortung für die Zukunft, die eigene und diejenige meines Umfelds, zu definieren, um sie wahrzunehmen, sobald und wo immer es möglich wird. Mit Freude, mit Neugier, mit Zuversicht und mit erneuerter kreativer Energie.

Kaspar Zehnder, Februar 2021

www.kasparzehnder.ch


Weiter zu Dieter Stoll

Kaspar schickt uns weiter zu Dieter Stoll, seinem Lieblingsnachbarn und verantwortlich für so manche schöne Alltagsbegegnung. Wir freuen uns bereits auf das Gespräch mit Dieter und darauf unseren Begegnungsradius weiter zu öffnen.

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