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paul&MuseodiValVerzasca – Begegnung in unserem Netzwerk

testo originale italiano

[Es] ergoss sich eine Flut von Erinnerungen und Anekdoten. Es entstand ein Wirrwarr von Stimmen. Meine Rolle als Moderatorin machte an jenem Tag keinen Sinn, da es sich offensichtlich um Gefühlsausbrüche und eine kulturelle Produktion handelte, die keine Einmischung benötigte. Ich denke, dass dies die höchste Stufe eines partizipativen Projektes ausmacht. Das heisst, wenn die Idee ihren eigenen Lauf nimmt und andere Menschen findet, die diese Idee aufnehmen, teilen und in Umlauf setzen.

Veronica Carmine

Ich bin Veronica und ich arbeite seit 2009 im Museo di Val Verzasca als Mediatorin und Kulturvermittlerin. Ich stelle mir das Museum gerne als Ort des sozialen Austausches vor. Aus diesem Grund bin ich auch Koordinatorin für die italienische Schweiz für das Projekt TiM-Tandem im Museum. Ziel dieses Projektes ist es, die Räumlichkeiten des Museums als Begegnungsort zwischen Personen, die sich nicht kennen und das Museum besuchen möchten, aufleben zu lassen. Wobei der Phantasie freien Lauf gelassen wird.

Das Projekt «Hast du das schon gehört! Originelle Geschichten an der Bar» entstand 2017 während der Ausbildung für Kulturvermittlung und Museumspädagogik KUVERUM mit dem Ziel, die Wahrnehmung des Museums als Ort «für Touristen», vom Alltag und den gegenwärtigen Gesprächen losgelöst und weit entfernt von den Erlebnissen der Leute, zu ändern. Wir wollten eine Gefühlsbindung herstellen, indem wir das materielle und immaterielle Kapital der Leute zur Geltung bringen. Wir suchten neun Restaurants im Tal auf, weil dort die Leute zu finden sind, die Lust und Zeit für Gespräche haben. Jedem Restaurant war ein eigenes, zum Standort passendes Thema gewidmet (Schule im Tal, Emigration aus dem Verzascatal, Fischerei, Strasse und Transporte, Geschäfte und Kneipen, Hockey, Disco-Clubs, versunkenes Dorf, Reben und Rebstöcke). Der Stammtisch wurde somit zum Ort neuer Kulturgespräche und die Bevölkerung des Verzascatals wurde eingeladen, über ihre kleinen, persönlichen Welten in Zusammenhang mit dem Tal zu berichten. Die Atmosphäre der Begegnungen entpuppte sich als lebhaft und voller Überraschungen. Alle Beteiligten wurden selbst zu Schöpfer:innen eines unveröffentlichen Erinnerungserbes, welches aus persönlichen und emotionalen Gegenständen, Photos, Briefen und gemeinsamen Erzählungen bestand. Nach den neun Befragungs-Anlässen machte sich das Projekt mit der Unterstützung der Restaurants und dank der Mund-zu-Mund-Propaganda der Gäste selbständig. Am jeweiligen Stammtisch wurden ein Objekt eines Gastes sowie einige Arbeitsblätter ausgeteilt, damit jede Person ihre eigene Geschichte in Zusammenhang mit dem Thema oder dem Gegenstand erzählen konnte. Am Schluss haben wir die Gegenstände und die Geschichten in den Restaurants gesammelt und eine temporäre Ausstellung organisiert. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen konnten sich somit für die Dauer eines Monats austauschen und Beziehungen pflegen. Für die lokalen Besucher:innen und Tourist:innen war es nun möglich, einen Blick auf das Tal zu werfen, mit Geschichten von Leuten anderen Alters und anderer Denkweisen.

Dadurch, dass «ein Stück» der eigenen Geschichte dank der Vorstellung eines «Familiengegenstandes» in einem öffentlichen Kontext sichtbar wurde, sind die Grundlagen für die Begegnungen, die persönliche Motivation und die Neugier, die Geschichten der Andern kennen zu lernen, gesetzt worden. Das hat uns interessiert.

Im Moment, als das Museum aus den eigenen Wänden heraus in Orte der Sozialisierung eintrat, um kulturelle Anregungen, welche die Talbevölkerung kennt, einzubringen, hat sich eine Art Vertrauenspakt zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit gebildet. Dadurch, dass «ein Stück» der eigenen Geschichte dank der Vorstellung eines «Familiengegenstandes» in einem öffentlichen Kontext sichtbar wurde, sind die Grundlagen für die Begegnungen, die persönliche Motivation und die Neugier, die Geschichten der Andern kennen zu lernen, gesetzt worden. Das hat uns interessiert. Das Projekt hat Begegnungen auch dann gefördert, als es während eines Monats in den Händen der Restaurantleiter lag und von Mund-zu-Mund-Werbung lebte. Die Einweihung der Ausstellung im Museum war spannend. Die Ausstellung umfasste Photos und kurze Audio-Aufnahmen der Begegnungen. Während der ganzen Dauer der Ausstellung kam die Bevölkerung immer wieder vorbei.

Besonders für das Projekt und die Bewohner:innen ist die Auswanderung aus dem Verzascatal Anfang des 20. Jahrhunderts nach Amerika und Australien. Sie betraf zahlreiche Familien. Alle können dazu eine Geschichte erzählen. Eine Teilnehmerin hat uns zum Beispiel die Geschichte ihrer Grossmutter erzählt, die nie das Tal verlassen hatte, aber im Alter ihren als jungen Mann nach Kalifornien emigirierten Sohn besucht hat – per Flugzeug.

Wenn ihr ins Verzascatal kommt, könnt ihr im Herbst 2022 eine partizipatorische Ausstellung besuchen, welche das Resultat von einem Jahr der Begegnungen auf dem Sagenweg des Verzascatals zwischen Anwohner:innen und Personen des Schweizerischen Gehörlosenbundes darstellt. Zusammen mit den Beteiligten möchte das Museum erfahren, welche kulturellen Gegenstände, die für die Region und das lebendige Kulturerbe von Bedeutung sind, sich in privatem Besitz befinden, und wie sie das damit verbundene lebendige Kulturerbe zugänglich gemacht und in ein inklusives Format übertragen werden können.

Das Projekt paul&ich ist aufregend. Die Idee, aus den eigenen Grenzen herauszutreten, fesselt sicher auf beiden Seiten, weil sie den Wert der Gemeinschaft zusätzlich stärkt. Damit eine Gemeinschaft entsteht, braucht es auch Kultur und Kreativität, Dialog und Austausch in allen Bereichen.

Veronica Carmine
Event zur Auswanderung / evento emigrazione
“Senti questa! Storie originali al bar” – Originelle Bargeschichten (2017)
incontro pesca bara / Restaurant-Treff “Fischerei”

Fotos: Museo di Val Verzasca & Veronica Carmine

Übersetzung aus dem Italienischen: Elena Altenburger


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